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    Im Netzwerk miteinander reden – das finnische Modell
    Der »Offene Dialog« ist ein Behandlungskonzept, das ab dem Ende der 1980er Jahre im finnischen Westlappland spezifisch zur Erstbehandlung schizophren-psychotisch erkrankter Menschen entwickelt wurde. Das Buch mit dem gleichlautenden Titel erschien 2022 als Neuausgabe, textgleich mit der deutschsprachigen Erstveröffentlichung aus dem Jahre 2007. Ergänzt durch ein Vorwort von Volkmar Aderhold und eine vorwiegend auf die Implementierung in Deutschland bezogene Nachbetrachtung von Nils Greve. Als Autoren fungieren Jaako Seikkula, emeritierter Professor für Psychotherapie an der Uni Jyväskylä und einer der maßgebenden Erschaffer des finnischen Modells sowie der Sozialpolitiker und Forschungsprofessor am Finnischen Nationalen Institut für Gesundheit, Tom Erik Arnkil.

    Was ist nun inhaltlich unter diesem Open Dialogue (OD), wie es im Englischen heißt, zu verstehen? Er umfasst zwei zentrale Bestandteile: einen bestimmten strukturellen Rahmen und eine besondere dialogische Gesprächspraxis. Zum Rahmen gehören sogenannte Netzwerkgespräche, in denen das multiprofessionelle Team nicht nur dem Indexpatienten begegnet, sondern auch dessen sozialer Umgebung. Der Familie also, ggf. aber auch anderen wichtigen Personen seines Lebens, Leuten aus der Arbeit oder wichtigen privaten Bezugspersonen. Diese Treffen finden ambulant meist im Zuhause des Klienten statt, eine stationäre Aufnahme soll nach Möglichkeit verhindert werden. Und ebenso wichtig ist, dass die Treffen sofortig, das heißt möglichst innerhalb von 24 Stunden nach Eingehen des Hilferufs erfolgen.

    Die Haltung der Gespräche ist dann streng dialogisch. Das heißt, dem Klienten wird keine allgemeingültige Problemdefinition (oder Diagnostik) übergestülpt, sondern es geht darum, die Situation im Dialog umfassend zu verstehen. Hierbei interessiert nicht nur die Sicht des Betroffenen selbst, sondern auch die der anderen Netzwerkteilnehmer. Jede Stimme zählt und soll gehört werden! Und erst in dieser »Vielfalt der Stimmen im Netz« – vergleiche den Untertitel des Buches – und durch »gemeinsames Nachdenken« (S. 128) wird ein umfassendes Verständnis der durchaus unterschiedlich erlebten Wirklichkeit(en) möglich. Das überaus wichtige aktive Zuhören und die darauf erfolgenden Antworten kreieren dann eine neue Sicht der Dinge. Auch die Therapeutinnen und Therapeuten äußern sich offen vor den Netzwerkteilnehmern, verstecken ihre Gedanken, Reflexionen und fachlichen Pläne also nicht in abgetrennten Vor- oder Nachbesprechungen. Alles erfolgt offen und transparent! »Der Dialog selbst wird zum Ziel« (S. 157).

    Auch den psychotischen Stimmen wird hierbei Raum gegeben. Denn Symptome werden als Ausdruck komplexer und schmerzhafter Emotionen verstanden. Es gilt daher, psychotische Erfahrungen in Worte zu kleiden, sie zu einem »Teil des normalen Gesprächs« zu machen und dadurch »in gewisser Weise [zu normalisieren]« (S. 141). Der wertschätzende Dialog auf Augenhöhe, wenngleich mit differenten Rollen zwischen Therapeuten und Familienmitgliedern, kann so zu einer »heilsamen Erfahrung« (S. 133) werden.

    In der Summe entsteht dergestalt ein Erfahrungsaustausch in der Begegnung, der sich von herkömmlichen Therapieprozessen fundamental unterscheidet. Und obwohl psychotische Erlebnisse grundlegend eine Rolle spielen, kommt es entweder gar nicht oder nur niederdosiert und eher kurzzeitig zum Einsatz neuroleptischer Medikamente. Der Schlüssel des Modells liegt eben im Dialog aller Netzwerkbeteiligter, dem interpersonellen Raum zwischen ihnen und dem daraus resultierenden polyphonen Prozess. Der Einzelne oder die Familie wird nicht passiv gemacht, nicht zum Objekt des Therapeuten, sondern steht mit diesem in einer lebendigen Subjekt-Subjekt-Beziehung. Der Klient bestimmt so mit, was mit ihm geschieht (s. S. 128 ff.).

    Soweit einige Kerngedanken aus diesem mittlerweile mehr als dreißig Jahre alten skandinavischen Behandlungsansatz, der im nördlichen Finnland zur psychiatrischen Regelversorgung wurde. Dies auch, weil katamnestische Studien von einem ungewöhnlichen Erfolg der Methode sprachen: So sank die Hospitalisierungsrate signifikant, es berichteten nur 29 Prozent von einem Rückfall und 86 Prozent kehrten in ein aktives soziales Leben, das heißt in den Arbeitsprozess oder ein Studium etc. zurück.

    Bleibt abschließend die Frage, was seit den 1980er Jahren aus diesem Ansatz geworden ist und wieweit er auch in Deutschland Fuß fassen konnte. Hierzu bleibt die Antwort etwas dürftig, nur im Nachwort erfährt man knapp, dass in den ursprünglichen Stammländern »die Zahl der Teams abnimmt, die mit dem OD arbeiten« (S. 212). Und hierzulande gibt es zwar dank Volkmar Aderholds Initiative ein »Netzwerk Offener Dialog« und jährliche Home-Treatment-Tagungen, in die Regelfinanzierung hat es der OD allerdings nie geschafft. Immerhin aber ist die Netzwerkorientierung heute (zumindest theoretisch) allgemein anerkannt, und es kommt in der ambulanten Versorgung zunehmend zum Aufbau multiprofessioneller Teams. Wenigstens ein Teil des finnischen Modells ist also Wirklichkeit geworden.

    Jürgen Karres in Soziale Psychiatrie

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